Goethes Werther ist den meisten von uns im Deutschunterricht begegnet .Wir erinnern uns vielleicht an die unglückliche Liebe, die ihn in die Verzweiflung und den Selbstmord treibt. Das Nationaltheater Weimar hat sich den 250. Jahrestag des Werther-Erscheinens zum Anlass genommen, diesen Klassiker und Publikumshit seiner Zeit im Rahmen einer Show hochleben zu lassen, und das nicht nur einmal, sondern gleich dreimal. Denn Regisseurin Swaantje Lena Kleff lässt uns die unterschiedlichen Facetten des Werthers gleich dreifach oder gar vierfach erleben.
So gibt es denn jungen, verknallten, Künstler-Werther, der ein kreativer Freigeist ist mit coolem Outfit und wilder Rokkoko-Frisur (Fabian Hagen). Dann wird uns der naturverliebte Werther im Friesennerz (gelber „Rock“ und blaue Hose – die „Uniform“ Werthers) mit Gummistiefeln (Calvin-Noel Auer) präsentiert. Und schließlich ist da noch der Rechtspraktikant Werther mit zurechtgestutzter Pagenfrisurperücke und barockem fliederfarbenem Barock-Hosenrock, der versucht, sich gesellschaftlichen Normen anzunähern (Marcus Horn), dabei aber anstößt, weil er nicht anerkannt wird und sich selbst für diesen Konformitätsversuch hasst.

Die beiden Show-Hosts der Party, Charly (Nadja Robiné) und Bert (Nahuel Häfliger), heizen dem Publikum ein und wollen mit ihrer Show dem Werther die Bühne bieten, die er verdient hat. Dazu kommen soll auch Lotte (Raika Nikolai). Deren Erscheinen in leuchtend roten Adidas-Jogginghosen, Corsage und gelbem Halsband sorgt unter den Werthers gleichermaßen für Aufregung. Und als es während des Balls schließlich zu einem Gewitter kommt, schlägt quasi auch bei den Werthers der Blitz sein – sie sind schockverliebt in Lotte. Lotte ist Werthers Annäherungsversuchen nicht wirklich abgeneigt, sie erkennen auch viele Gemeinsamkeiten (der Klopstock-Incident). Bis klar wird, dass Lotte auf dem Sterbebett der Mutter dem gut situierten, aber etwas traditionellen Albert (mit Reiserock ständig wichtig und distinguiert, Nahuel Häfliger) versprochen wurde. Spätestens hier wird Werther klar, dass Lotte für ihn unerreichbar bleibt. Aber auf Distanz geht er erstmal trotzdem nicht, sondern drängelt sich etwas aufdringlich an Lotte und dies auch ziemlich offensichtlich für Albert.
Die Leidensgeschichte des jungen Werther wird uns durch Tanzeinlagen, Songs und Kostümwechsel veranschaulicht und leicht verdaulich gemacht. Trotzdem deklamieren die Beteiligten (außer im Rahmen der Show) den Orginaltext – äußerst gelungen! Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang „Die gute Nachricht“, gesungen von Fabian Hagen. Auch schön: Lottes „Sei vergnügt, sing ein Lied“ à la Disneys Schneewittchen. Irgendwie eine Anti-Werther-Hymne. Nimm dich doch nicht so wichtig. Schau, wie schön die Welt ist und nimm daran teil.
Goethe schrieb den Roman innerhalb von nur vier Wochen, als er erst 24 Jahre alt war. Die Parallelen zu seinem Leben und seinen Begegnungen sind eindeutig. Insbesondere unter den Jugendlichen der damaligen Zeit soll ein Werther-Fieber umgegangen sein, so sehr fühlten sich die jungen Menschen von dem Buch angesprochen und berührt und haben mit Werther mitgelitten. Das Fieber packt einen bei der Vorstellung zwar nicht, jedoch fühlt man sich famos unterhalten. Auch wenn sich mancher im Publikum fragt, ob es echt noch die Brotwerbung sein musste (warum nicht? Goethe fand die Brot schneidende Lotte ja auch erzählenswert) und warum sich neben den drei existierenden Werthers auch noch der Regieassistent (Janus Torp) zum vierten Werther aufschwingen muss (warum nicht? Damals wollten alle Werther sein, vgl. den Werther-Effekt in der Psychologie). Gerade weil dieses Inszenierung nicht den Werther feiert, ist diese Inszenierung zu feiern.
Die Zerrissenheit des Werther durch unterschiedliche Personnagen darzustellen ist eine tolle Idee. Während Werther in seiner Zeit des Sturm und Drangs gefeiert wurde als einer, der seinen Prinzipien treu ist und sich gegen Gesellschaft, Konventionen und Normen auflehnt, so gerät er in dieser Darstellung als sturer Kerl, der kompromisslos seinen Vorstellungen und Idealen folgt und sein Scheitern folgerichtig dazu führen muss, dass er keinen Anteil mehr an dieser, ihm verpönten Welt, haben möchte und deswegen den Selbstmord als Exit wählt. Anders als zu Goethes Zeiten, wo diese Strategie als konsequent und romantisch interpretiert wurde, kommt man hier zum Schluss, dass es sich Werther hier zu leicht macht. Muss er die Dramaqueen spielen? Muss er sich so theatralisch feiern? Schließlich entzieht er sich der Realität durch Flucht, statt mutig sich, seinen Standpunkt oder auch die Welt verändern zu wollen.
Die Tatsache, das Stück in eine Show zu packen und damit entertaining zu gestalten, verstärkt den Eindruck, dass Werther eher ein unglücklicher Tropf ist, dessen Auftreten amüsant ist. Eigentlich identifiziert sich keiner mit ihm. Alle leben ihr Leben weiter. Spießer Albert ist glücklich mit Lotte und führt ein Standard-Leben mit 11 Kindern. Ihr Leben wurde und wird nicht von Werther bestimmt.
Dieses Stück zeigt:
Leben. Glücklich sein. Spaß haben. Einfach mal machen. Ist also das Gewöhnliche dann nicht vielleicht doch lebens- und erstrebenswert(her)?
Die Leiden des jungen Werther
Schauspiel nach dem Briefroman von Johann Wolfgang Goethe
Theaterfassung von Eva Bormann, Swaantje Lena Kleef, Beate Seidel
Premiere 10.02.2024
Aufführungsdauer 2 Stunden ohne Pause
Foto Candy Welz
Besetzung: Calvin-Noel Auer, Nahuel Häfliger, Fabian Hagen, Marcus Horn, Raika Nicolai, Nadja Robiné und Janus Torp
In nobler Gesellschaft (Video): Mathilde Biard, Sara Drasdo, Martin Esser, Rosa Falkenhagen, Johanna Geißler, Tahera Hashemi, Eva-Sophia Haußen, Anne Horny, Victoria Kerl, Annelie Korn, Sebastian Kowski, Heike Lucius, Marie Riedel, Pauline Schwarz und Dascha Trautwein
Regie Swaantje Lena Kleff
Bühne Philip Rubner
Kostüme Anne Horny
Musik Ludwig Peter Müller
Choreografie Romina Geppert
Licht Andreas Heptner
Video who-be
Dramaturgie Eva Bormann / Beate Seidel
Regieassistenz und Abendspielleitung Eva-Sophia Haußen
Bühnenbildassistenz Sara Drasdo
Kostümassistenz Isabell Marx