Antigone als Märtyrerin, die ihre die sittlichen Regeln und das Gesetz der Götter über die des Staates stellt und auch stringent ihre Sichtweise verteidigt, ist aufgrund ihrer noch immer währenden Präsenz in deutschen Lehrplänen für kaum einen Theaterbesucher unbekannt. „Antigone“ handelt von Antigones (Julia Hell) Widerstand gegen das königliche Verbot Kreons (Rüdiger Hellmann), ihren Bruder Polineikes zu bestatten. Als Konsequenz leidet nicht nur Antigone, sondern auch ihr Verlobter Haimon (Phillipp Andriotis), der gleichzeitig Kreons Sohn ist. Damit nicht genug: das Unvermögen, zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen, stürzt die gesamte Familie in den Abgrund.
Was sollte man als Theaterbesucher über Antigone und deren Vorgeschichte wissen? Grundsätzlich liegt über Antigone als Angehörige des Geschlechts der Labdakiden ein Fluch. Dieser wurde von Pelops gegenüber Laios, dem Vorfahren Antigones ausgesprochen, als dieser Pelops Sohn entführte. Inhalt des Fluches ist, dass Laios durch seinen leiblichen Sohn getötet werden wird und dieser dann Laios Frau, also seine eigene Mutter, heiraten würde. Dieses Schicksal wird mit der Geschichte des Ödipus thematisiert. Entsprechend dem Fluch und der Vorhersage des Orakels von Delphi erfüllt sich diese Prophezeiung. Ödipus kommt nach Theben, wird dort König und heiratet seine Mutter Iokaste. Sie bekommen 4 Kinder: Polineikes, Eteokles, Antigone und Ismene, und regieren 20 Jahre friedlich. Dann jedoch schlägt das Schicksal wieder zu: Die Pest tobt in Theben. Um die Stadt zu erlösen, verkündet des Orakel, dass Ödipus den Mörder des Laios finden muss. Als die Wahrheit ans Licht kommt, sticht sich Ödipus die Augen aus und seine Frau (und Mutter) Iokaste erhängt sich. Die Söhne Polineikes und Eteokles teilen sich den Thron. Doch diese Lösung erweist sich als wenig erfolgreich. Bald schon streiten die Brüder um die Macht in Theben. Es kommt zur kämpferischen Auseinandersetzung (Sieben gegen Theben), in deren Folge sich Polineikes und Eteokles gegenseitig töten.
In diesem Setting setzt die Handlung von „Antigone“ ein. Theben ist immer noch gezeichnet von den Folgen des Krieges: physisches und psychisches Leid, Elend und Verzweiflung sind allgegenwärtig. Die Stadt erweckt den Anschein eines Friedhofs – von Gräbern übersäht. Kriegsversehrte irren umher. Auf der einen Seite soll der Sieg der Stadt gefeiert werden, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Schlacht auf beiden Seiten Verlierer hervorgebracht hat.
Während Eteokles als Verteidiger der Stadt ein ehrenvolles Begräbnis zuteilwerden soll, verfügt Kreon, der Onkel der beiden Brüder und Thronfolger von Theben, dass Polineikes‘ Leiche eine den Hunden und Vögeln zum Fraß vorgeworfen werden soll und jedem, der diesem Verbot zuwider handelt, der Tod droht. Antigone möchte ihren Bruder auf jeden Fall nach altem Brauch beerdigen, während ihre Schwester Ismene (Sophie Hess) das Verbot ernst nimmt und ihre Schwester bittet, Vernunft anzunehmen und sich der herrschenden Ordnung zu unterwerfen.
Die Geschichte beginnt tragisch und wird ebenso enden. „Antigone“ von Sophokles ist ein meisterhaftes Stück, in dem zahlreiche Konflikte thematisiert werden: sittliche Pflicht versus Staatsraison, familiäre Pflichten versus persönliche Moralvorstellungen, Rolle der Frau, Rolle eines Herrschers, Bewältigung von Konflikten, Definition von Freiheit innerhalb der Grenzen der Selbstbestimmung usw.
Regisseurin Joanna Lewicka inszeniert eine „Antigone“, in der es nicht so sehr darum geht, ob Antigone oder Kreon Recht hat und auf wessen Seite man sich schlagen sollte. Beide kämpfen, so Lewicka, um die Berechtigung des Ichs und sind besessen von ihrer eigenen Haltung. Jeder der beiden Seiten verwirklicht nur ihren eigenen Standpunkt, unfähig, von der jeweiligen Position abzuweichen oder die des anderen zu verstehen oder anzuerkennen. Dramatisch ist, dass beide zwar Recht, aber aufgrund ihrer jeweiligen Einseitigkeit und Sturheit auch Unrecht haben. Lewicka will uns zeigen: Machthaber kommen und gehen, aber die ewigen Konflikte der Menschen bleiben.
Die Konfliktdichte des Stücks, das nur einen Zeitrahmen von 24 Stunden umfasst, machen Lewicka und Aleksander Janas, der sich für Bühnenbild und Videodarstellung verantwortlich zeichnet, durch eine ständige Bewegung deutlich. Die sich drehende Bühne im ersten Akt, rennende Akteure, wechselnde Video- und Tonsequenzen sorgen dafür, dass man die Unruhe spürt und in den Strudel der Tragödie förmlich hereingezogen fühlt. Antigone ist aufgewühlt, verzweifelt, empört, verletzt, unruhig, aufgeregt. Sie muss etwas tun. Ob ihr vom Herrscher eine Strafe droht oder nicht, ist ihr nicht wichtig. Sie will sicher sein, dass sie ihren Bruder im Elysium wieder in die Arme schließen kann.
Im Kontrast dazu wird Kreon als statisch dargestellt. Während ganz Theben an den Kriegsfolgen leidet, hat er sich vollkommen in die Rolle des Herrschers begeben, der keinen Widerspruch, keine Einwand, kein Hinterfragen seiner Entscheidungen duldet. Er zieht überhaupt nicht in Erwägung, dass eine andere Meinung potentiell auch richtig sein könnte und wittert nur opportunistische Gegner, die ihn zu Fall bringen wollen, die sich bestechen haben lassen, um ihm zu schaden. Es geht ihm völlig ab zu verstehen, dass es etwas Größeres als Recht und Ordnung, etwas Höheres als die Staatsräson geben könnte. Selbstgefällig sieht er sich als Verteidiger der Rechte des Staates. Seine Untergebenen (Bote/Wächter Daniel Koch) begegnen ihn mit Angst und Unterwürfigkeit. Für seinen Sohn Haimon (Philippos Andriotis) hat er nur Geringschätzung und Überheblichkeit übrig.
Von Anfang an ist dem Zuschauer klar: wir sehen hier eine Stadt der Verdammten, dunkel, düster, hoffnungslos. Janas, der sein Bühnenbild selbst als minimalistisch beschreibt, fügt Spezialeffekte hinzu, die sich holistisch einfügen und sowohl ästhetisch als auch atmosphärisch die Betroffenheit und die Trauer übersetzen.
Die Kulisse ist reduziert: Scheinwerfergestänge werden als optische Mittel eingesetzt, um skleletthaft Trümmer und Ruinen darzustellen. Selbst der eiserne Vorhang wird als Bühnenelement eingesetzt. Das wirkt. Akkustisch wird die Eingangsszene durch Kriegsgeräusche wie bei einem Fliegerangriff unterlegt. Es gibt Video- und Geräuscheinspielungen von Sand und Wind, die rau und naturbelassen, fast mystisch sind. Sie symbolisieren Antigones Vorhaben, Eteokles die Beerdigung zuteil werden zu lassen, die ihm nach attischem Recht zusteht. Gleichzeitig kann der rieselnde Sand auch wie das Verrinnen von Zeit interpretiert werden.
Janas nutzt Videosequenzen des Chors, die die Eindringlichkeit seiner Botschaft in schwarz-weiß unterstreichen. Sehr gelungen ist auch die Wahl der Sprache (Übersetzung und Bearbeitung von Heinz Oliver Karbus). Ohne Schnörkel, nackt und klar. Teilweise vom Chor intensiv intoniert, von den Videosequenzen mahnend eingespielt, wirken die Worte wuchtig, in ihrer Deutlichkeit kraftvoll und schneidend.
Wie in Sophokles Tragödie vorgesehen, spielt der Chor auch in Lewickas Fassung eine große Rolle: er ist nicht nur die beratende Stimme der Weisen und Kommentierer des Geschehens: mit ihren weißen Gewänder könnten es ebenso die Geister Verstorbener oder sogar die Götter selbst sein.
Apropos Gewänder: Kostümbildnerin Vanessa Vadineanu hat sich sowohl von traditionellen griechischen Gewändern inspirieren lassen, arbeitet aber ebenso mit Tüll, Schnüren, Uniformen und erzeugt damit eine zeitlose Universalität. Während die Königsfamilie in glänzenden, strahlenden Gewändern, die teilweise hoch geschlossen und einengend, teilweise durch Bänder wie Fesseln wirken, tritt das Volk bzw. der Chor in erdfarbenen, semitransparenten Gewändern auf, die verhüllen und das Individuum verschwinden lassen. Der Seher Teresias ist mit einem besonders opulentem Kostüm aus Federn ausgestattet.
Antigone erst gebeugt und unruhig, später immer gefasster, legt dar, warum ihr die Bestattung ihres Bruders wichtig ist. Sie ist klar und wird immer klarer, beinahe frenetisch in ihrem Vorhaben und Überzeugung. Die drohende Strafe wirkt nicht bedrohend auf sie. Aufgrund des Schicksals ihrer Familie wirkt der Tod nicht wie eine Bedrohung, sondern eine Erlösung für sie.
Kreon sieht in ihrer Tat Renitenz gegenüber seiner Herrschaft und fühlt seine Autorität durch sie untergraben. Ihm scheint es, als würde sie sich nicht nur mit ihrer Tat brüsten. Schlimmer noch nimmt er ihre Aktion persönlich und fühlt sich genötigt, ein Exempel zu statuieren: es muss klar sein, wer der Herrscher ist, eine einzige Rebellin mache ihn zum Lügner, das Volk tanze ihm auf der Nase herum, wenn er nicht im Stande ist, seine eigene Sippe ihm Zaume zu halten. Er will deutlich machen, dass man dem gewählten Herrscher im Großen und Kleinen, also vorbehaltlos folgen muss.
Haimons Versuch, Kreon davon zu überzeugen, dass man alles von zwei Sachen sehen kann und dass es keine Schwäche ist, sich eines guten Rats zu bedienen, wo er angebracht ist, scheitert. Er ermahnt seinen Vater inbrünstig, er solle nicht in den Wahn verfallen, dass nur er allein Recht hat, denn er würde den Bogen seiner Eitelkeit damit überspannen. Kreon nimmt seinen Sohn nicht ernst. Obwohl er ihn als Sohn zunächst als Verbündeten im Haus bezeichnet hatte, spricht er ihm nun jegliche Kompetenz ab, ihm Ratschläge zu erteilen. Weder als Sohn, noch als Untergebener. Kreon will sich nicht beherrschen lassen. Er bleibt uneinsichtig und stur. Mehr noch, er nimmt Antigones Aufopferungsbereitschaft nicht ernst, indem er ihr vorwirft, dass ihr Dienst am Toten überflüssig sei. Ihre Raserei würde nur ihren Speichelleckern imponieren.
Im zweiten Akt baut Janas auf die Wucht und gleichzeitig Schlichtheit der Gruft, in die Antigone verbannt wird. Sie nimmt den Mittelpunkt der Bühne ein, wirkt aber nicht wie ein schmachvolles Verließ, sondern eher wie ein Monument oder Mausoleum, das man Kriegshelden errichtet. Es ist glänzend und reflektiert, durchsichtig, aber undurchdringbar. Hierhin wurde Antigone verbannt und soll ihren Tod finden. Irgendwie auch bezeichnend: ein Mahnmal wird auch erst errichtet, wenn der Krieger verstorben ist. Erst posthum wird ihm die Ehre und Achtung zuteil, weil man zu seinen Lebzeiten nicht in der Lage war, Probleme zu erkennen und friedlich zu lösen. Dann erst wird aus dem Verachteten der Verehrte.
Antigone hat schon mit den Lebenden und dem Leben abgeschlossen. Die Hoffnung auf die Liebe ihrer Familie, die sie im Totenreich wiedertreffen wird, aber auch die Tatsache, dass sie mit reinem Gewissen diese Welt verlässt, führen dazu, dass Antigone wie eine Märtyrerin in ihr steinernes Gefängnis schreitet. Der Chor singt „Across the Universe“ von den Beatles, „Nothing’s gonna change my world“.
Plötzlich kehrt Ruhe oder Stillstand ein. Die Bühne bewegt sich nicht mehr. Es gibt keinen Raum für Aktionen oder Kämpfe mehr. Hoffnungslosigkeit macht sich breit. Nur noch Kreon wirkt stabil und gefasst. Aber die Fassade bröckelt. Hier kommt Teiresias noch einmal ins Spiel (Claudia Lüftenegger): Der mit Blindheit gestrafte Seher, der durch Vögel die Zukunft prophezeien kann, fliegt in der Version Lewickas über dem tragischen Ende des Stücks. Aus seiner (im wahrsten Sinne des Wortes) „Vogelperspektive“ kommentiert er singend das einbrechende Unheil und prophezeit dem überheblichen Kreon dessen Verderben. Geniale Wahl des Songs („Here’s to you“, Joan Baez), auch im HInblick auf dessen politischen Hintergrund. „The last moment belongs to us, that agony is our triumph.“ Extrem erdig und echt umgesetzt durch Claudia Lüftenegger, eine Todeshymne für Antigone. Gänsehautmomente!
Kreon schwankt, aber noch ist verletztes Ehrgefühl größer als die Einsicht, dass jetzt Nachgeben besser wäre. Ihm steht sein Ego zu lange im Weg. Zwar übermannt ihn schließlich die Angst und er versucht, seine Fehler zu korrigieren, Polineikes zu bestatten und Antigones Strafe zu erlassen. Aber als er an Antigones Felsenverließ ankommt, hat diese sich schon an ihrem Brautschleier erhängt und Haimon hat sich vor Verzweiflung erstochen.
Der Bote muss nun Euridike, Kreons Frau (Ute Menzel) von den Vorkommnissen berichten. Obwohl er zunächst zögert, fordert sie ihn stark und um Fassung ringend auf, ihr die Wahrheit zu berichten. Im Leid erfahren, meint sie, könne die Botschaft verkraften. Auch der Bote hat eine Wandlung vollzogen. Während er bei Kreon anfangs noch ängstlich war, die Wahrheit zu berichten, weil er fürchten musste, dafür bestraft zu werden, erklärt er nun mutig und stringent die Vorkommnisse. Euridike verstummt schockiert und zieht sich schweigend ins Haus zurück. Als Kreon erscheint, bleibt dem Boten nur noch, ihm vom Selbstmord seiner Frau zu berichten. Ohne Angst legt er Kreon dar, dass er selbst der Mörder sei. Seine Unnachgiebigkeit hat seine Familie zerstört.
Als das unvermeidliche Ende kommt, wirkt das Publikum wie eingefroren und es dauert einen Moment, bis sich die Spannung in Applaus entlädt. Auch den Schauspielern ist anzumerken, welche Kraft die jeweiligen Rollen auf sie ausgeübt haben. Was bei diesem Stück absolut gelingt, ist die Darstellung der (eben nicht optimalen) Auseinandersetzung mit einer Konfliktsituation und deren seelische Bewältigung, und zwar nicht nur aus Antigones, sondern auch aus Kreons Sicht. Die beiden Protagonisten sind eigentlich die einzigen, die aufgrund ihrer Uneinsichtigkeit und ihrer emotional aufgeladenen Stimmung die Katastrophe herbeibeschworen haben, auch wenn immer wieder auf das Schicksal verwiesen wird, aus dem sich noch nie ein Mensch befreien konnte. Wer von beiden ist schuldig, wer ist unschuldig? Der Zuschauer wird nicht mit einem vorweggenommenen Urteil bevormundet, wer hier Recht hat, wer hier recht handelt und was davon richtiger oder wichtiger ist. Das muss man selbst für sich entscheiden. Und das ist Theater.
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Antigone
von Sophokles | Übersetzung und Bearbeitung von Heinz Oliver Karbus
Regie Joanna Lewicka
Bühne/Video/ Multimedia Aleksander Janas
Kostüme Vanessa Vadineanu
Musikkonzept Joanna Lewicka
Sounddesign Aleksander Janas
Dramaturgie Luise Curtius
Regieassistenz Vladimir Golubchyk
Soufflage Sandra Spauszus / David Ripp
Inspizienz Sandra Spauszus
Kreon, König von Theben Rüdiger Hellmann / Jürgen Lingmann
Eurydike, seine Gemahlin Ute Menzel
Haimon, beider Sohn Philipp Andriotis
Antigone, Tochter des Ödipus Julia Hell
Ismene, ihre Schwester Sophie Hess
Teiresias, ein blinder Seher Claudia Lüftenegger
Ein Wächter Daniel Koch
Chor Sophie Hess, Ute Menzel, Claudia Lüftenegger; Philipp Andriotis, Daniel Koch
Spieldauer ca. 2 Stunden 15 Minuten, inklusive einer Pause
Aufführungsrechte Thomas Sessler Verlag, Wien
Foto André Leischner