Romeo und Julia als Fortunas Narren– Schicksal, Zufall, freier Wille

Nach den beiden Klassikern Don Quichotte (Musik von Léon Minkus) und Schwanensee (Pjotr Iljitsch Tschaikowski) ist Romeo und Julia  (Serge Prokofieff) das dritte Handlungsballett des seit der Spielzeit 2022/2023 engagierten Ballettdirektors Sergei Vanaev und seiner Compagnie.  Mit diesem berühmten Ballett, das ganz der bekanntesten Love Story aller Zeiten, der gleichnamigen Liebestragödie von William Shakespeare folgt, setzt sich Vanaev wieder gewissen Erwartungen des Publikums aus. Jeder kennt „Romeo und Julia“! Einerseits erscheint es komfortabel, eine bekannte Geschichte zu erzählen und somit die Zuschauer und Zuhörer sofort „mit im Boot“ zu haben, denn es besteht kein Erklärungsbedarf, worum es geht. Andererseits besteht der Anspruch, der Story seinen eigenen Stempel aufzudrücken.

Während Vanaev die Grundgeschichte Shakespeares beibehält, verschlankt er den Kreis der zu besetzenden Charaktere, konzentriert sich auf die aus seiner Sicht wichtigsten Hauptfiguren, simplifiziert das Bühnenbild (Dako Petrovic: geniale Tiefeneffekte und Beleuchtungsmöglichkeiten, eine Treppe, kein Balkon, keine Waffen) und die Kostüme (monochrom, elegant und edel) und nutzt die Athletik und Bewegungsfreude seiner Tänzer und Tänzerinnen, um den Schwerpunkt auf Emotionalität zu legen, das Publikum zu bewegen und Eindruck zu machen.

Derart reduziert, macht sich „Romeo und Julia“ von Vanaev frei von Zeit und Raum. Will sagen: die Geschichte kann jederzeit, irgendwann, überall, irgendwo geschehen. Auch im Hier und Jetzt.  Vanaev koppelt Raum (wo?) und Zeit (wann?) aus und konzentriert sich rein auf das Gefühl (wie?).

Zur Handlung: Kurz und wenig überraschend: es geht um die Liebe. Und zwar um die Liebe in vielen Formen.

Da ist

  • die Liebe zwischen Mutter Capulet (ganz stark: Kristina Zaidner) und Tochter Julia (zerbrechlich: Rita Di Bin/Miyu Fukagawa),
  • die brüderliche Liebe zwischen Tybalt (super-athletisch: Stefano Neri) und Julia,
  • die Liebe unter Freunden (Mercutio, Benvolio, Romeo herrlich draufgängerisch gespielt von Lucien Zumofen, Marco Palamone und Davide Gentilini),
  • die Liebe als körperliches Begehren (unerwartet und lustig: Pater Lorenzo: Luca di Giorgio und Julias Amme: Lucie Froehlich),
  • die Stände-Liebe oder Zwangsheirat zwischen Graf Paris (genial affektiert: Lucien Zumofen) und Julia
  • und natürlich die große Liebe zwischen Romeo (leidenschaftlich verliebt und leidenschaftlich leidend: Davide Gentilini) und Julia (erst unschuldig und zurückhaltend, dann hinreißend traurig: Rita Di Bin/Miyu Fukagawa).

Zu Beginn der Handlung erleben wir die vor Kraft, Hormonen und jugendlichem Leichtsinn strotzenden Freunde Romeo (Davide Gentilini), Mercutio (Lucien Zumofen) und Benvolio (Marco Palamone). Leidenschaftlich und übermütig kommen sie daher. Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel – eine echte Freundschaft. Ihre gute Laune und Energie springen sofort auf das Publikum über. Sie haben keine Sorgen und freuen sich des Lebens, unbeschwert und draufgängerisch. Während der heimlichen Teilnahme an einer Party schockverliebt sich Romeo in Julia und umgekehrt. Julia (Rita di Bin/Miyu Fukagawa) ist eine brave und behütete Tochter aus gutem Hause. Sie ist fügsam und zurückhaltend, möglicherweise auch, weil ihre Mutter, Lady Capulet (Kristina Zaidner/Jieun Choi) als Helikopter-Mutter nur das Beste für ihre geliebte Tochter will und energisch, resolut und bestimmend auftritt und bislang alle Entscheidungen für Julia getroffen hat.  

Bei Romeo und Julia ist Liebe auf den ersten Blick. Die beiden Jugendlichen blenden die Welt um sie herum aus. Es gibt nur noch den Liebsten bzw. die Liebste. Glückseligkeit ist wahrscheinlich die korrekte Vokabel, um das Gefühl zwischen ihnen zu beschreiben. In ihren Pas den Deux wird klar: diese beiden gehören zusammen. Egal, was das Umfeld ihnen auferlegt, sie tun alles, um sich zu treffen und sich wiederzusehen, auch wenn es im Geheimen oder nachts ist. Die abwehrende Haltung von Freunden und Familie ihrer Beziehung gegenüber bestärkt ihre Liebesbande noch. Um auf Nummer Sicher zu gehen, bittet Julia ihren gemeinsamen Vertrauten,  Pater Lorenzo, die Beziehung zwischen ihr und Romeo durch eine geheime Eheschließung abzusichern. Vor Gott sind die beiden offiziell ein Paar. Bis zum Ende des ersten Aktes sieht es noch so aus, als könnte es ein Happy End geben.

Aber: Die Welt um Romeo und Julia akzeptiert ihre Liebe und ihr Glück nicht. Durch tragische Zwischenfälle eskaliert die Situation: Der eigentlich stets positive Mercutio wird vom aggressiven, gereizten Tybalt derart provoziert, dass es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kommt (genial in tänzerischer Ausführung wie in einer Arena mit dramatischer Beleuchtung), in deren Verlauf Mercutio stirbt. Ab diesem Moment wird alles nur noch schlimmer, die Dramatik nimmt an Fahrt auf und lässt sich nicht mehr stoppen: Obwohl Romeo aus Nachsicht auf die Familienbande zwischen Tybalt und Julia eine Eskalation vermeiden möchte, bestimmen sein Stolz und Ehrgefühl sein Handeln.  Im (absolut packenden) Duell zwischen Romeo und Tybalt unterliegt Tybalt. Julias Mutter ist totunglücklich (hervorragend interpretiert von Kristina Zaidner: hier verliert die kontrollierte und kontrollierende Mutter die Fassung) und es ist klar, dass sie eine Beziehung zwischen ihrer Tochter und dem Mörder ihres Neffen niemals akzeptieren wird.

Schlimmer noch: während Romeo fliehen muss, um seiner Strafe zu entgehen, hat Julias Mutter bereits einen adäquaten Ehemann für ihre Tochter gesucht. Es handelt sich um Graf Paris (Lucien Zumofen), der gut situiert, aber auch arrogant und anmaßend daher kommt und Julia eher wie ein Gut als eine geliebte Person betrachtet. Julia weiß nicht mehr ein noch aus. Die Verzweiflung ist ihr ins Gesicht geschrieben. Die aufrdinglichen Annäherungsversuche des Grafen wehrt Julia ab. Es ist jedoch klar, dass die Mutter eine Beziehung zu dem Grafen auch gegen Julias Willen forcieren wird. Julia ist entsetzt. Ohne ihren Geliebten will sie nicht mehr sein. Zusammen mit Pater Lorenzo entwickelt sie den Plan, mittels eines geheimen Tranks ihren eigenen Tod vorzutäuschen, um dann mit Romeo zu fliehen. Der Plan misslingt, weil Romeo nicht pünktlich darüber informiert wird, dass es sich lediglich um ein Täuschungsmanöver handelt. Er findet seine Geliebte in der Familiengruft, wähnt sie tot und wählt aus Verzweiflung den Freitod. Als Julia aus ihrem Scheintod erwacht, erkennt sie mit Entsetzen, dass Romeo nicht mehr lebt und folgt ihm in den Tod.

Wie setzt Vanaev diese Dramatik in seinem Ballett um? Was Shakespeare durch allerlei Irrungen und Wirrungen des Schicksals versucht darzustellen, gelingt ihm besonders durch die geniale Zuhilfenahme zweier metaphorischer Figuren: eines schwarzen und eines weißen Engels. Diese dienen als zusätzliche symbolische Protagonisten oder Navigatoren, (vielleicht kann man sie auch als Choreographen für die Handlung bezeichnen), die gewisse Entscheidungen und Geschehnisse beeinflussen. Diese Spielemacher repräsentieren das Schicksalshafte, Überirdische, das, was das menschlichen Auge nicht erfassen kann.

Während der Weiße Engel Hilfe, Stärkung, Rettung, Schutz, Trost und Liebe bringt, setzt sein dunkler Gegenspieler, der Schwarze Engel, alles daran, in einer friedlosen Welt, die von Feindschaft und einem Mangel an Kompromissbereitschaft geprägt ist, die Menschen weiter anzustacheln, sie gegeneinander aufzuhetzen und Hass und Zwietracht zu schüren. Beide eint die Eigenschaft, Menschen manipulieren zu können, sie zu beeinflussen und zu dirigieren. Der Weiße Engel, gespielt von Minsu Kim, erscheint gottgleich, allmächtig, kraftvoll, kontrolliert. Er symbolisiert das Gute, ist gewissermaßen ein Schutzengel, der Reinheit, positive Kraft und Schönheit symbolisiert. Seine Widersacherin, der Schwarze Engel, der von Sofia Isepatto dargestellt wird, ist ebenso schön, aber auf eine dunkle, gefährliche Art. Obwohl sie zart und grazil ist, strahlt sie Macht und Aggressivität aus. Wie ein Marionettenspieler diktiert sie die Gefühle der Figuren und stachelt ihre Unvernunft, Zwietracht und ihren Hass an. Verführerisch umgarnt sie die Beteiligten und lässt keine Möglichkeit aus, die Menschen auseinanderzubringen.

Vanaev nimmt bewusst keine optische Abgrenzung (zum Beispiel durch Farbgebung der Kostüme) in zwei Familien, also die Montagues und Capulets, vor, denn grundsätzlich sind diese Gruppen so verschieden nicht: es eint sie ihr Hass, ihre Rachegelüste und ihre Reizbarkeit, also kurz ihre Anfälligkeit gegenüber der Einflussnahme des Schwarzen Engels.

Damit wird die der Geschichte innewohnende Tragik noch verstärkt: Sie entwickelt sich nicht nur als Verkettung unglücklicher Ereignisse, vergeudeten Möglichkeiten und Missinterpretationen, sondern fügt ganz in Sinne Shakespeares noch höhere Mächte hinzu, wie Schicksal, Fügung, Prädestination, Bestimmung. Mit diesem gewissen Fatalismus als treibende Kraft wird klar, dass bei allem Glauben an und das Kämpfen um die große, bedingungslose Liebe gegen alle Hindernisse die Liebe allein das Allheilmittel nicht sein kann.

Dramaturgisch sind die beiden Engel ein genialer Kunstgriff. Sie hinterlassen beim Zuschauer das Gefühl, dass es sich vielleicht um die beiden Engel handelt, die bei jedem von uns auf der Schulter sitzen und uns zum Guten oder Schlechten beeinflussen: das schaffst du, du kriegst das hin, du bist genug. Oder aber: warum gerade ich, alles ist schlecht, die anderen sind im unrecht, ich verdiene es, besser behandelt zu werden, warum sind alle gegen mich. Was besonders nachdenklich macht, ist die Tatsache, dass es der Weiße Engel viel schwerer hat, positiven Einfluss auszuüben. Er versucht, die Situation zu entschärfen und an das Gute, die Vernunft, Selbstkontrolle und Beherrschung zu appellieren. Aber die Menschen lassen sich einfacher vom Bösen beeinflussen: sich gehen zu lassen und andere zu schwächen, kompromisslos eigene Interessen durchzusetzen und aggressiv, arrogant und dominant zu agieren ist einfach weniger anstrengend, und  vielleicht sogar cooler als zurückzustecken und Kompromisse zu schließen.

Mit dieser Interpretation des Stücks wird die Komplexität und Verknüpftheit menschlicher Schicksale untereinander deutlich. Sie zeigt die Zerbrechlichkeit des Lebens, die Macht der Liebe und die Konsequenzen individueller und gemeinschaftlicher Handlungen. Und sie soll uns vielleicht ermutigen, dem Weißen Engel auf unserer Schulter mehr Einfluss auf unser Handeln zuzugestehen als dem Schwarzen. Möglicherweise zeigt uns dieser Stoff jedoch auch nur, dass wir unserem Schicksal ausgesetzt sind und jede Möglichkeit nutzen sollen, die uns geboten wird, um zu lieben und geliebt zu werden, denn alles andere befindet sich außerhalb unserer Macht.

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Romeo und Julia

Op. 64 (1934-36, rev. 1940) Ballett in drei Akten und einem Epilog von Serge Prokofieff, Adrian Piotrowski, Leonid Lawrowski und Sergej Radlow | In der reduzierten Fassung von Tobias Leppert | Inszenierung und Choreografie von Sergei Vanaev | Es spielen die Clara-Schumann-Philharmoniker Plauen-Zwickau

Musikalische Leitung GMD Leo Siberski
Choreografie und Inszenierung Sergei Vanaev
Bühne und Kostüme Darko Petrovic
Dramaturgie Christina Schmidt
Trainingsleiterin, Assistentin des Ballettdirektors  Wen-Hua Chang
Ballettrepetitor Masayuki Carvalho
Inspizienz Teresa Maria Simeoni

Clara-Schumann-Philharmoniker Plauen-Zwickau

Romeo Montague Davide Gentilini
Julia Capulet Rita Di Bin  /  Miyu Fukagawa
Lady Capulet Kristina Kelly Zaidner  /  Jieun Choi
Schwarzer Engel Sofia Iseppato

Weißer Engel Minsu Kim
Tybalt, Cousin von Julia Stefano Neri
Mercutio, Freund von Romeo Lucien Zumofen
Benvolio, Cousin von Romeo Marco Palamone
Graf Paris Lucien Zumofen
Julias Amme Lucie Froehlich / Soyong Ko
Pater Lorenzo Luca Di Giorgio
Einwohner von Verona Jieun Choi,Lucie Froehlich, Sofia Iseppato, Juhee Kang, Yoon Seo Kim, Soyong Ko, Veronica Sala,Yuria Takahashi

Fotos André Leischner


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