Masken: Täuschen und Tarnen

Gemeinsam mit Gastchoreographen Mário Radačovský gestaltet Ballettdirektor Sergei Vanaev am Theater Plauen-Zwickau einen Abend, aus zwei voneinander unabhängigen Teilen, der im Mai 2023 seine Uraufführung hatte. Beide beschäftigen sich mit der Bedeutung von Masken, Radačovský im zwischenmenschlichen Bereich und Vanaev auf gesellschaftlicher Ebene.

Als im alten Griechenland Theateraufführungen öffentlich gezeigt wurden, konnte man erkennen, dass der Schauspieler in eine andere Rolle schlüpfte, indem er sich eine Maske überzog. Diese signalisierte, dass er jetzt nicht mehr als er selbst, sondern als eine neue Persönlichkeit, ein neuer Charakter auftritt. Mit dieser Maske konnte er sich also von seinem wahren Ich distanzieren. Auch heute noch bedienen wir uns – bewusst oder unbewusst – Masken. Sei es auf der Bühne oder im Alltag. Sie schützen uns vor uns selbst und anderen. Sie verbergen etwas und geben gleichzeitig etwas über uns preis. Sie helfen uns, in verschiedenen sozialen Interaktionen akzeptiert zu werden, Erwartungshaltungen zu erfüllen und verhüllen dabei unser authentisches Selbst.

Während das Dekodieren von Mimik und Gestik ein fundamentaler Bestandteil menschlicher Interaktion und Kommunikation darstellt, verzerrt oder erschwert eine Maske eine 1:1-Übersetzung dieses Nonverbalen . Wir haben uns quasi getarnt, um dazuzugehören, um Widersprüche zu vermeiden, um andere und uns selbst zu schützen. Allerdings können wir nun nicht mehr erwarten, dass wir als derjenige wahrgenommen werden, der wir sind, sondern nur noch als jene, die wir zu sein vorgeben. Können wir also wissen, ob wir wegen unserer selbst verstanden, akzeptiert und geliebt werden oder wegen des Images, welches wir mit unser Maske aufgebaut haben?

Wie diese Maskierung auf kleinster Ebene – nämlich individuell und zwischenmenschlich in Beziehung zu unserem Partner- funktioniert, zeigt Mário Radačovský in dem von ihm choreografierten ersten Teil des Tanzabends.  Wann offenbaren wir uns? Wen lassen wir hinter die Fassade schauen? Sind wir uns selbst überhaupt bewusst, dass wir verkleidet sind? Was geben wir preis? Wie verletzlich machen wir uns? Wollen wir riskieren, ohne den Schutz der Maske, also beim Offenbaren unseren wahren Gesichts, nicht mehr akzeptiert und geliebt zu werden?

Die Stimmung seines Tanzteils ist ruhig und dennoch eindringlich, unterstrichen durch Radačovskýs fast sphärische Musikauswahl (Max Richter, Yann Tiersen) und Licht- und Schattenspiele. So minimalistisch ausgestattet, ist klar, dass die der Schwerpunkt definitiv auf der Vermittlung von Gefühlen liegen wird. Dem Zuschauer bleibt keine Zeit für eine langwierige Einleitung. Die Protagonistin (Kristina Kelly Zaidner) steht bereits auf der Bühne und betrachtet eine Gruppe von Personen, die ihr abgewandt ist. Sie lebt in einer Welt, in der Täuschung an der Tagesordnung und gesellschaftlich akzeptiert ist. Ihre Mitmenschen funktionieren halbautomatisch und haben sich zum Großteil von ihrem individuellen Selbst zugunsten eines Gruppenoutfits wie eine Uniform mit multiplen Gesichtsmasken getrennt.

Die unmaskierte Tänzerin distanziert sich von ihnen.  Einerseits optisch, weil sie keine Maske trägt und weil ihr Outfit (ganz in schwarz) sich von dem der anderen (rot vorn, schwarz hinten) unterscheidet. Andererseits tanzt sie allein und verzweifelt gegen die Gruppe. Die fehlende Maske macht sie zum Außenseiter. Aber sie setzt die Maske nicht wieder auf. Sie bleibt unmaskiert, auch wenn es schmerzhaft ist und sie einsam macht. Sie will dazugehören und teilhaben, aber nicht für den Preis ihrer Individualität und Identität.

In ihrer dunkelsten Stunde löst sich eine Person (Davide Gentilini) aus der Gruppe und beschließt, ebenfalls seine Maske abzunehmen. Er wird so zu ihrem Verbündeten. Ohne die Masken finden die beiden Gemeinsamkeiten. Aber nicht in jedem Fall erleichtet dies fehlende Maske ihr Miteinander. Sie sind verletzlich und verletzen einander. Sie machen sich selbst wichtig und wünschen sich, in dieser Wichtigkeit und Absolutheit von dem Partner akzeptiert zu werden.

Aber Beziehungen funktionieren oft auch deshalb, weil man Konflikte vermeidet, indem man nicht alles offenbart, auch um sich selbst und die Beziehung zu schützen, den Partner in Sicherheit zu wiegen, dessen Selbstbewusstsein zu stärken. Das ist völlig in Ordnung und beziehungstechnisch förderlich. Um unnötigen Auseinandersetzungen und Reibungen aus dem Weg zu gehen und Widersprüche zu vermeiden, ist eine Maske möglicherweise eine legitime Art der Täuschung.

Wie viele und welche Wahrheiten kann eine Beziehung aushalten? Mit welchen und wie vielen Masken verlieren wir uns selbst und werden zu roboterartigen Hüllen ohne eigenen Inhalt? Sind wir bereit, den Preis der Ablehnung und Non-Konformität zu zahlen, damit wir sein können, wer wir sind? Um uns selbst zu akzeptieren, wer wir sind, müssen wir uns von dem trennen, was wir vorgeben zu sein. Um geliebt zu werden, wie wir sind, müssen wir uns wagen, die Maske abzunehmen. Allerdings fordert das auch die Bereitschaft von uns, unser Gegenüber so zu akzeptieren, wie er ist. Das verlangt Selbstvertrauen, Vertrauen in den Partner und das Aushaltenkönnen von Widersprüchen und Spannungen. Genau diese Widersprüchlichkeit und Emotionalität wird so vertanzt, dass das Publikum ganz gefangen ist. Das Highlight ist das Pas de Deux zwischen den beiden Hauptfiguren, die ihre Verletzlichkeit offenbaren und deren Vertrautheit und Offenheit Vertrauen zueinander schafft.

Nicht nur im Kontext von romantischen Beziehungen, sondern auch bei der Betrachtung der Dynamik von Gruppen und Machtgefügen spielt die Idee der Maskierung eine große Rolle. Diesem Blickwinkel widmet sich Sergei Vanaev in seiner Interpretation des Themas in der zweiten Hälfte des Tanzabends. Kann die Maskierung dazu beitragen, dass man sich unterscheidet und abgrenzt oder assimiliert und dazugehört? Oder beides? Welche Chancen, welche Gefahren verbergen sich dahinter?

Vanaev zeichnet das Bild eines anfänglichen Ur-Zusammenlebens einfacher, wenig ausgeprägter Individuen, das eher von Chaos geprägt ist, mit einfachen, bodennahen Bewegungen zu klassischer Musik. Sie verhalten sich intuitiv und instinktgesteuert und sind noch in einer Art Kokon gehüllt.

Plötzlich betritt eine neue Person (Minsu Kim) ihre Welt, der Ordnung ins Chaos bringt, nicht durch Überzeugungskraft und Kommunikation, sondern durch Verführung. Der kraftvolle Verführer hebt sich optisch deutlich von ihnen ab: er trägt einen schwarzen Anzug, der schillert und glänzt, schwingt und alle seine Bewegungen begleitet, wie eine Art Missionarsgewand, aber gleichzeitig wie ein Outfit aus dem Bereich SM mit Latex- und Lackelementen, Falten. Sein Gesicht ist durch eine totenkopf- oder auch kultartige Maske verdeckt. Jeder Teil seines Körpers ist bedeckt. Im Vergleich zu den unscheinbaren Wesen wirkt er dominant, extrem präsent, elegant und beeindruckend. Während der Pöbel noch am Boden kriecht und eher plump und unbeholfen wirkt, geht er aufrecht und selbstbewusst, fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit und erhält sie auch. Sobald er auftritt, nimmt die Musik an Fahrt und Aggessivität auf, wie in einem Krimi wird ein Spannungsbogen aufgebaut.

Die Maske der Macht arbeitet mit Täuschung auf vielen Ebenen. Er täuscht andere mit seiner Identität, seiner Loyalität und seinen Beweggründen und Zielen. Mittels seiner Flötenklänge verzaubert er seine Anhänger. Diese Mystifizierung sorgt für Aufruhr. Sie sorgt für Ordnung und Struktur und bringt dadurch Sicherheit und Berechenbarkeit ins Chaos. Die Bewegungen werden effizienter, gleichartiger, paradeähnlich. Nicht nur in ihren Bewegungen, auch in der Kostümierung macht die Gruppe eine Entwicklung durch: Die Gruppe hat sich angepasst, ist nun auch in den schwarzen Lackkostümen gekleidet, wie Klone ihres Meister, sind also gleichsam uniformiert und tanzen sich uniform zu Ravels Bolero in Trance. Auf dem Höhepunkt der Verwandlung marschieren alle im Gleichschritt, während ihr Anführer zufrieden und selbstgerecht von der Empore zuschaut.

Doch plötzlich ändert sich die Vibe. Die Stimmung kippt: Techno-Rave und kollektives Ausflippen ist angesagt, der Beat wummert in den Ohren. Irgendetwas schaukelt sich zu sehr zu hoch, bis es eskaliert. Einzelne Mitglieder des Verbundes lösen sich von der Gruppe, von der Verkleidung, aus der Trance. Sie entledigen sich ihrer Kluft und haben sich augenscheinlich auch von ihrem anfänglichen Flaum befreit, sind eigenständige Individuen geworden. Zunächst ist es nur eine einzelne Person, die eine weitere motiviert, auf sich selbst zu vertrauen und der Konformität und dem Gruppenzwang zu entfliehen. Es folgt eine Art Befreiungstanz, der so ganz anders ist als der orchestrierte Powermarsch. Miyu Fukagawa und Lucien Zumofen fliegen, drehen sich, nehmen den Raum ein, entfalten sich. Eine fantastische Art der Emanzipation und Selbstfindung.

Als sich der Rest der Gruppe aus dem hypnotischen Hype befreit, sich nach und nach der Kostümierung entledigt und die selbst gewählte Bevormundung abschüttelt, ist der Anführer not amused. Diese Entwicklung kann der (Ver-)Führer nicht tolerieren. Er setzt dem unkontrollierbaren Treiben mit Waffengewalt und wie in Trance ein Ende, bis kein Rebell mehr Widerstand leistet. Allerdings sind ihm dadurch auch die Anhänger und Untergebenen abhandengekommen. Und was ist ein König ohne Untertanen? Seine Rolle als Anführer und Machthaber ist obsolet geworden. Diese Einsicht trifft ihn hart. Unter seine Maske steckt auch nur ein Mensch, der nicht nur andere, sondern auch sich selbst getäuscht hat. Verweifelt tanzt er sich zur Pavarotti-Arie L’elisir d’amor frei. Die Wahrheit zerstört ihn und er zerstört sich selbst. Das Ende.

Oder die Möglichkeit eines neuen Anfangs?

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Masken (UA)

Ballettabend von Mário Radačovský und Sergei Vanaev

Besetzung

Choreografie, Regie und Bühne   Mário Radačovský   und  Sergei Vanaev
Kostüme Stephan Stanisic
Dramaturgie Christina Schmidt 
Trainingsleiterin, Assistentin des Ballettdirektors Wen-Hua Chang
Ballettrepetitor Masayuki Carvalho

Fotos André Leischner

Mit Jieun Choi ,  Rita Di Bin ,  Lucie Froehlich ,  Miyu Fukagawa ,  Sofia Iseppato ,  Yoon Seo Kim ,  Soyoung Ko ,  Veronica Sala ,  Yuria Takahashi ,  Kristina Kelly Zaidner ;  Davide Gentilini ,  Luca Di Giorgio ,  Minsu Kim ,  Stefano Neri ,  Marco Palamone ,  Lucien Zumofen